Relative Realitäten – Sapa, der Norden Vietnams.

Realität ist relativ. Im Norden Vietnams, nur ein Steinwurf von der Chinesischen Grenze entfernt, wurde uns die Möglichkeit zuteil Einheimische aus einem kleinen Bergdorf für 36 Stunden zu begleiten. Nach einer fünfstündigen Wanderung eröffnete sich uns in dem Dorf mit ungefähr 300 Einwohnern ein atemberaubendes Panorama. Einzig und allein umgeben von grünen üppigen Bergen und fruchtbaren Reisterassen war dieser Ort nicht nur friedvoll und idyllisch, sondern auch simpel und lieferte mir eine wichtige Erkenntnis.

Der Weg ins Dorf gestaltete sich beschwerlich. Während uns die Steigung und die unbefestigten Wege in Kombination mit der hohen Luftfeuchtigkeit zu schaffen machten –  keine Ahnung wann ich das letzte Mal so geschwitzt habe – schritten die Damen, die als einzige den Weg kannten, unglaublich leichtfüßig, unbeschwert und bestimmt die Hänge hoch. Ihr Schuhwerk erinnerte dabei eher an einen lockeren Spaziergang am Strand zum Sonnenuntergang als an eine fünfstündige Tour durch die Berge. Das versetzt mich bis heute ins Staunen, lieferte aber immerhin die extra Portion Motivation. Abhängen lassen wollte ich mich nicht, vor allem nicht von Badeschlappen.

Die Dame, die wir begleiten durften, hieß Mama Mao. Unser Kennenlernen war keine Fügung und auch kein kurioser Zufall. Reisen ist meistens auch gar nicht so romantisch ist, wie einem für gewöhnlich verkauft wird. Hier ein Stück meiner Realität. Du kommst mit einem Nachtbus in einer Stadt namens Sapa an, dessen Namen du vor wenigen Tagen noch nicht kanntest. Es ist 6 Uhr morgens. Du steigst aus, hast im Grunde gar keine Ahnung wo du eigentlich bist und kannst dich gerade noch so an deinen Namen erinnern. Schon warten Frauen aus den umliegenden Dörfern auf dich und wollen dir eine Tour anbieten. Wie gesagt, 6 Uhr morgens. „Hey Sir, do you want a guide?“ Puh, nee, ja,…vielleicht, keine Ahnung ey, ’n Kaffee wäre ganz nett.

Ich buche ungern etwas im Voraus und hatte mich mit Jan, meiner Begleitung und guten Freund, auch schon darauf geeinigt erst mal nichts dergleichen in Anspruch zu nehmen. Einfach erst mal ankommen, klar kommen. Dann kam Mama Mao. Sie war gefühlte 1,50m groß und ihre Haut hatte schon viele Stunden Sonne gesehen. Ihre Kleidung, selbst genäht und mit traditionellen Mustern bestickt. Sie tapste gelassen hinter uns her.

„Hey, what do you want to do?“

„Well, we don’t know, we just want to arrive first“

„Yeah you look tired, how about some breakfast?“

Wir kamen ins Gespräch. Natürlich war es auch Mama Maos Anliegen uns dazu zu bewegen mit ihr Zeit zu verbringen. Klar. Sie erzählte uns von ihrem Dorf und was sie uns alles zeigen könne. Eigentlich wären wir weiter gegangen, doch etwas war anders als bei den anderen. Sie war nicht aufdringlich, sondern so ausgeglichen und ruhig. Schon fast verhalten. Für mich vertrauensweckende Attribute. Ich stellte ihr allerhand Fragen.

Mit den Jahren habe ich gelernt, dass es weniger darauf ankommt was die Menschen zu einem sagen, sondern vielmehr darauf wie sie es tun. Haben Menschen etwas zu verbergen oder schlechte Absichten, können sie dich vielleicht anlügen, Worte sind dafür schnell gefunden, aber sie können dir dabei nicht geradeheraus in die Augen schauen und noch viel weniger den Blick halten.

Aufgrund kultureller Unterschiede ist es möglich, dass jemand aufrichtig ist, dich aber trotzdem nicht anschauen kann oder will. Wie beispielsweise in Japan, wie ich hörte. Das gibt es, aber der umgekehrte Fall ist doch fast ausgeschlossen, solange nicht Lucifer persönlich vor dir steht oder?

Mama Mao stand da, seelenruhig und lächelte. Sie wich keinem Blick aus und einmal trafen sich unsere Blicke für mehrere Sekunden. Die Lachfalten in ihren Augenwinkeln waren wunderschön und ich hörte mich wie aus der Distanz sagen. „Ok, we are doing it.“

Auf dem Weg hatten wir viel Zeit uns zu unterhalten. So, fünf Stunden. Mama Mao ist mit 30 Jahren ein Jahr älter als ich. Sie hat vier Kinder und bekam ihr erstes mit siebzehn Jahren. Mit 30 Jahren ist ihr ältester Sohn also dreizehn Jahre alt. Sie kommt aus dem nächstgelegenen Dorf, mit ihrem Mann ist sie zusammen seitdem sie fünfzehn ist. Zur Heirat wurden ihre Eltern von der Familie ihres Mannes entlohnt. Ihre freie Entscheidung sei es trotzdem gewesen, versicherte sie uns. Wie auch ihre Freundinnen, hat sie Englisch einzig und allein von den Touristen gelernt. Ich kam aus dem staunen gar nicht mehr raus.

Wir gehen gemeinsam diesen Berg hinauf und unterhalten uns – sogar irgendwie vertraut. Wir sind für eine Zeit lang gleich und doch unterscheidet sich unser Leben in jedem einzelnen Punkt. Unsere Welten könnten unterschiedlicher nicht sein. Ich habe sie gefragt, ob sie schon mal in ein fremdes Land gereist sei. Sie entgegnete mir und das völlig ohne Reue, dass sie noch nicht einmal in der 10 Stunden entfernten großen Stadt Hanoi gewesen sei, aus der wir gerade kamen.

Bei ihr zuhause angekommen – vorher gab es noch stilecht eine Wäsche im dorfeigenen Wasserfall – bereitete sie uns eine Mahlzeit zu, sie war genügsam, gleichzeitig reichhaltig und wir lernten die Familie kennen, die in drei Generationen dort lebt.

Ihr Haus war das Einfachste, in dem ich je geschlafen habe und es war fabelhaft. Die Möblierung beschränkte sich auf einen Holztisch in der Mitte und einer alten Schrankwand, die mehr als Spielplatz für die Kinder diente als ein dekoratives Wohnobjekt darzustellen. Dazu ein paar Plastikstühle. In der Küche eine offene Feuerstelle neben der eine Katze lag und ein paar große Töpfe. Neben den Betten war es das auch schon fast. Im ganzen Haus hing Mais zum Trocknen, auf den ein wunderschönes Licht fiel, für das wenige Vieh, das sie besaßen. Vier Schweine und ein paar freilaufende Hühner, die immerzu wegrannten, wenn man um die Ecke kam. Die beschwerliche Reisernte lag wenige Tage hinter der Familie und die Reissäcke stapelten sich. Die Ernte betrug 35 x 50kg. Das reicht für die siebenköpfige Familie in etwa ein Jahr. Es gibt jeden Tag Reis. Zu jeder Mahlzeit.

Am Abend sahen wir wie geschafft sie vom Tag war. Nicht nur, dass sie unglaublich früh aufstand, um uns abzuholen, denn immerhin stand sie um 6 Uhr morgens schon unten in der Stadt, während wir uns nach dem Weg entspannten, kümmerte sie sich noch um die Familie und fing wenige Zeit später an das Abendessen zuzubereiten. Ich glaube sie entspannte einmal für fünf Minuten. Wir ein allein vom Weg komplett im Arsch. Und so sieht jeder Tag bei ihr aus.

In solchen Situationen wird mir wieder bewusst wie unterschiedlich die Welt für uns alle sein muss. Wir unterscheiden uns gewaltig in unsere gesamten Wahrnehmung. Realität ist relativ. Einige Dinge existieren für andere Menschen gar nicht. Mama Mao sieht die Welt nicht wie ich und umgekehrt. Versetze ich mich in die Lage Mama Maos haben so viele Dinge in meinem Leben gar keinen Bestand mehr und verlieren völlig an Bedeutung. “Reales” Beispiel: Denke ich beispielsweise gerade daran mir Noise Cancelling Kopfhörer zu kaufen, weil mir andere Gäste in Cafés zuweilen zu laut sind, ich aber in Ruhe mein Buch lesen möchte, während ich meine Plauze mit einem Stück Kuchen nähre, ist das doch nichts was im Greifbaren Mama Maos liegt. Ehrlich gesagt würde ich mich sogar schämen, wenn ich ihr davon erzählen müsste.

Wenn es denn möglich ist, dass etwas für jemanden kein Problem darstellt, wie relevant ist das Problem dann in seinem Kern eigentlich wirklich? Gewisse Dinge haben unabhängig einer jeden Realität bestand. Hunger, Durst, soziale Bedürfnisse bspw., doch darüber hinaus ist es doch schon sehr davon abhängig wo du auf dieser Welt aufgewachsen bist und wie du diese siehst.

Vielleicht wirst auch du dich bei deinem nächsten scheinbaren Problem mal in die Lage Mama Maos versetzen und dich fragen, ob dein Problem dann immer noch real ist. Ist es kein Problem für Mama Mao, ist es auch kein wirkliches Problem. Alles eine Frage der Einstellung.

Das Abendessen im Übrigen war grandios. Es waren die besten Frühlingsrollen, die ich je gegessen habe. Danach holte sie eine Plastikflasche mit Reisschnaps raus. „Happy Water“, wie sie es nannte. Die Trinkgeschwindigkeit: sportlich. Jan war direkt voll. Nach Runde acht begann ich ihr in meinem Brausebrand davon zu erzählen wie schön ich den ganzen Tag fand, wie sehr ich sie schätze und das ihr Lächeln der ausschlaggebende Grund dafür sei, dass wir nun hier säßen. Danach gingen wir alle glückselig ins Bett. Ich schlief wie ein Stein und es war einer der erholsamsten Nächte seit langem.

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